Proportionen
Stell dir vor, du wärst klein wie eine Ameise. Eine Wiese wäre ein Dschungel, mit undurchdringlichem Dickicht. Überall zerklüftete Felsen und Geröllabhänge, dazwischen gefährliche Spalten, Abgründe und riesengroße Löcher, aus denen turmhohe Monster schnellen. Da kommt ein Käfer vorbei, schillernd in seiner Pracht. Du versteckst dich hinter dem nächsten Spitzwegerich, nicht wissend, ob er dich im nächsten Moment fressen wird. Plötzlich rauscht und knattert die Luft über dir, und mit einem lauten Rrrrums setzt eine Heuschrecke neben dir auf. Seine großen glänzenden Augen blicken dich starr an. Dröhnend wie ein Hubschrauber surrt eine Biene heran, und als sie auf der Blüte über dir aufsetzt, fallen um dich herum Wasserbomben in Größe eines Kleinwagens herunter, als die Blume unter dem Gewicht wild hin und her schwankt und die letzten Tautropfen abwirft. Sie explodieren auf dem Boden und schleudern Wasserfetzen und Erdbrocken umher.
Du kletterst auf eine Blume, um zu sehen wo du bist. Das ist anstrengend, und es gibt kaum Querstreben, auf die du steigen könntest. Oben quetschst du dich zwischen zwei Blütenblättern hindurch, die dir dick und fleischig vorkommen, und setzt dich in die körnige Mitte. Du genießt die warme Sonne, immer Ausschau haltend nach einem Vogel, der vielleicht eine gewisse Lust verspüren könnte, dich von deinem herrlich offenen Ausblick wegzupicken. Es ist eine gefährliche Welt, aber voller Wunder und Schönheiten.
Und jetzt stell dir vor, du wärst riesengroß. Die Seen wären für dich nur kleine Pfützen, Flüsse nur Rinnsale. Hügel würdest du nur als kleine Hindernisse wahrnehmen, und Berge mit drei Schritten überwinden. Die Welt wäre flach für dich, riesige Wälder nur wie moosbewachsene Felsen. Es gäbe keine wilden Tiere, denn die wären klein wie Insekten. Es wäre völlig ungefährlich. Aber auch einsam und farblos.
Siehst du deine Welt durch die Augen einer Ameise, oder durch die eines Riesen?
Firewalkermom - 29. Aug, 10:33